Dezember 2023: WEIHNACHTSKONZERTE DER SCHÖNBUCH-KANTOREI

Das Weihnachtsoratorium, Bachs volkstümlichstes Werk innerhalb seiner geistlichen Vokalmusik, verdankt seine Berühmtheit in erster Linie der grandiosen Musik zur vertrauten Weihnachts-geschichte und den eingestreuten bekannten Advents- und Weihnachtsliedern. Jahr für Jahr erklingt es an vielen Orten in der Advents- und Weihnachtszeit routiniert und ist oft kaum mehr als weihnachtliche Betriebsamkeit oder bloße Konvention (W. Blankenburg). Will man der Gefahr der Abnutzung und Verflachung nicht durch eine Schonzeit begegnen, stellt sich die Frage, ob und wie trotz berechtigten Unbehagens Aufführungen die Kraft dieser Musik freizulegen im Stande sind und Ausführende und Zuhörende erreichen.

Im letzten Jahr haben wir Haydns Schöpfung mit einer Uraufführung konfrontiert und setzen diese Konzeption der Verbindung von Alt und Neu fort in der Hoffnung, vielleicht einen neuen Zugang zu dem fast überstrapazierten „Klassiker“ zu ermöglichen, dessen Musik und Text, so genial sie auch sein mögen, Ergänzung, Kommentierung, vielleicht auch Widerspruch herausfordern.

Wiederum ist es Otfried Büsing, der mit der 1997 entstandenen Komposition „Schaut! Er kommt auf den Wolken“ zum Bachschen Weihnachtsoratorium eine zeitgenössische Gegenüberstellung geschaffen hat. Das ca. elfminütige Werk – ein Solosopran, der in extreme Höhen geführt wird, drei Trompeten, großes Schlagwerk und Orgel – wirft einen apokalyptisch-visionären Blick auf den wiederkommenden Christus als Weltenrichter und Erlöser, wie er in der Offenbarung des Johannes auftritt. Im Dialog mit dem Weihnachtsoratorium ergibt sich eine Koppelung von Schau der Wiederkunft und Rückblick auf die Geburt Jesu, eine kontrastierende Verbindung von Vision und Retrospektive (Büsing).

Die Aufteilung des ganzen Weihnachtsoratoriums auf zwei Konzerte ist nicht nur der Länge geschuldet. Die Teile 1-3 des ersten Konzerts umfassen die eigentliche Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2 und ergeben ein geschlossenes Bild, in dem die Teile 1 und 3 korrespondieren und beide den Rahmen um Teil 2 bilden.

Für die Teile 4-6 im zweiten Konzert gilt das nicht in gleicher Weise. Teil 4 steht musikalisch für sich, auch aufgrund der Besetzung der Rahmenchöre mit zwei Hörnern und der F-Dur-Tonart. Hingegen schließen die letzten Teile 5+6 mit der Geschichte der drei Weisen aus dem Morgenlande aus dem Matthäusevangelium wieder an die drei ersten Teile an. In beiden Aufführungen, am 16. und 17. Dezember, erklingt auch die Komposition von Otfried Büsing: im ersten Konzert gleich zu Beginn und mit direkter Überleitung in den Bachschen Eingangschor „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“. Im zweiten ist sie fast in der Mitte der Teile 4-6 zu hören: nach den im Andante vorgetragenen prophetischen Worten des Evangelisten „und du Bethlehem im jüdischen Lande“ und vor dem tiefsinnigen Terzett „Ach, wenn wird die Zeit erscheinen“, das unmittelbar den eschatologischen Text der Offenbarung aufnimmt und in die Gegenwart zurückholt. Mit dieser Anordnung wird das zeitgenössische Stück am zweiten Abend nicht nur einfach wiederholt, sondern steht an dieser Stelle als prophetischer, eschatologischer Blick, gefolgt vom Blick zurück zum Jetzt, zum Fest von Christi Geburt, während im ersten Konzert der visionäre Blick „Schaut! Er kommt auf den Wolken“ umgekehrt den weihnachtlichen Horizont unmittelbar aufbricht.

Th. Schäfer-Winter